Familien- & Beziehungssystem bzw. Herkunfts- & Gegenwartsfamilie
- Pierre & Alexandra Frot
- 1. Juli 2019
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 11. Juli 2019

Familiensystem in Familienaufstellungen nach Hellinger
Familien unterscheiden sich von anderen sozialen Systemen durch die vorgegebene und dauerhafte Zugehörigkeit, die sie bieten, und durch die lange, gemeinsame Geschichte, die ihre Mitglieder teilen. Die freie Wahl, hinzuzukommen oder auszuscheiden, ist nicht gegeben. Kinder treten mit ihrer Geburt ein, gekündigt werden kann niemand. Wenn erwachsen gewordene Kinder ihr Elternhaus verlassen, halten sie innerlich das konstruierte Bild der Familie und mit ihm die Bindungen und Beziehungen aufrecht. Positionen und Hierarchien bleiben also erhalten. Das Kind der Eltern wird immer das Kind dieser Eltern bleiben. Ändern hingegen kann sich, was die Familienmitglieder tun, ihr gegenseitiger Umgang miteinander, die Achtung, die sie einander entgegenbringen, ihre Rollen, und wie
sie ihr Schicksal annehmen und meistern. Für Bert Hellinger ist die Familie nicht nur ein System, sondern auch ein geistiges Feld, in dem alle miteinander verbunden und in Resonanz sind. Bei Familienaufstellungen unterscheidet man zwischen zwei verschiedenen Familiensystemen: der Herkunftsfamilie und der Gegenwartsfamilie.
Die Herkunftsfamilie
Unsere Herkunftsfamilie ist die Familie, in die wir hineingeboren wurden. Dort liegen unsere
Wurzeln, unser Ursprung, von dort kommen wir. Oft können Probleme erst gelöst werden,
wenn die Herkunftsfamilie aufgestellt wird. Zum Herkunftssystem gehören
Mutter und Vater: Mit »Mutter« wird die Frau bezeichnet, die tatsächlich geboren hat. Der »Vater« ist immer der Mann, der das Kind gezeugt hat. Die Frage von Adoptivkindern: »Welchen Vater soll ich jetzt aufstellen?«, erübrigt sich also aus systemischer Sicht.
Geschwister und Halbgeschwister: Dazu zählen sowohl die lebendigen als auch die bereits verstorbenen, die tot geborenen Kinder und auch Kinder aus abgebrochenen oder abgetriebenen Schwangerschaften. Oft ist so etwas nicht bekannt. Angeheiratete Familienmitglieder gehören nicht zum System.
Vorhergehende Generationen: Dazu zählen die Großeltern, aber ohne ihre Geschwister, es sei denn, diese hatten ein besonders Schicksal. Die Urgroßeltern spielen selten eine Rolle in Familienaufstellungen.
Geschwister der Eltern: Sowohl die lebenden als auch die bereits verstorbenen werden mit einbezogen.
Die Gegenwartsfamilie
Die Gegenwartsfamilie ist im Familiensystem die »heutige« Familie. Zum Gegenwartssystem
gehören in der Regel:
der Ratsuchende,
jetzige Partnerschaften oder Ehen,
frühere Partner (Verlobte, »große Liebe« …),
die Kinder – auch die, die nicht leben konnten wie verstorbene, abgetriebene, im Mutterleib verstorbene Kinder oder Fehlgeburten,
die Enkelkinder
Kinder, die der Lebenspartner eventuell aus einer früheren Beziehung hat, ob diese im Haushalt leben oder nicht, ist nicht von Bedeutung.
Bei einer Familienaufstellung des Gegenwartssystems werden meistens Themen im Jetzt geklärt. Es sind oft Anliegen, die mit der Paarbeziehung, mit früheren Ehepartnern oder mit
den eigenen Kindern zusammenhängen. Gerade wenn Kinder betroffen sind, ist es sinnvoll, die Aufstellungsarbeit mit der Gegenwartsfamilie zu beginnen, denn Kinder tragen häufig
mit an den ungelösten Problemen und Lasten der Eltern.
Nicht verwandte Systemmitglieder
Es gibt bei Aufstellungen keine »wissenschaftliche« Definition der Grenzen eines Familiensystems. Ob die Familienseele jemanden in das System aufnimmt und mit den anderen Familienmitgliedern verbindet, lässt sich im Beziehungssystem anhand der Wirkung von Ausklammerungen erkennen. Wer als Ausgeklammerter das Schicksal anderer prägt, gehört zum Familiensystem. Die Kernfragen für die Zugehörigkeit sind oft: Wem verdankt jemand sein Leben und Überleben, oder durch wen erlitt jemand eine schwere Verletzung oder den Tod? Wer gibt jemandem das zum Leben und Überleben Notwendige, oder an wem verursachte jemand ein existenzielles Trauma oder den Tod? Zu einem Familiensystem gehören deswegen aus Hellingers Sicht neben den Verwandten auch manchmal solche Menschen, die in enger schicksalhafter Verknüpfung zu einem der Familienmitglieder stehen oder standen, wie z. B.:
die früheren Partner von Eltern und Großeltern, wenn sie abgelehnt oder ausgeschlossen wurden.
Falls ein Familienmitglied zum Mörder wurde, gehört oft auch dessen Opfer zum System. Das gilt auch bei Unfällen. Verursacht z. B. jemand, ob schuldhaft oder schicksalhaft, einen schweren Verkehrsunfall, bei dem eine fremde Person stirbt, gehört diese Person aufgrund der Schicksalsbindung mit zur Familie. Wenn ein Familienmitglied Mordopfer wurde, gehört häufig auch dessen Mörder dazu.
alle, auf deren Kosten das System – die Familie – einen Vorteil hatte, wie z. B. jemand, der Anspruch auf einen Erbteil hatte oder auch die zwangsenteigneten, jüdischen Besitzer eines Hauses, das in der Zeit des Nationalsozialismus der Familie zugesprochen wurde, die dann durch das Unglück der anderen einen Vorteil erlangte. Werden diese Personen nicht angeschaut, werden sie möglicherweise später im Familiensystem durch ein Kind vertreten.
Darüber hinaus gibt es Grenzfälle, bei denen zunächst geprüft werden muss, ob eine Systemzugehörigkeit wirklich besteht. Personen, die einer Familie durch finanzielle Unterstützung das Überleben ermöglichten, Lebensretter oder Personen, die einer verfolgte Familie, möglicherweise mit hohem Einsatz und unter eigenen Opfern die Flucht ermöglichten, gehören z. B. zu solchen Grenzfällen. Die Aufstellungsarbeit zeigt, dass diese Personen Einfluss auf das Familiensystem haben können, vor allem wenn sie nicht gewürdigt werden.
Beziehungssysteme in der Mehrgenerationalen Psychotraumatologie
Das entscheidende Konzept in der Mehrgenerationalen Psychotraumatologie (MPT) ist
das Konzept der Bindung. Bindungen können sich laut der MPT nicht nur im Familiensystem
entwickeln, sondern werden auch zu Freunden, Tieren oder sogar zu Gegenständen wie Puppen oder Plüschtieren eingegangen. Bindungen werden auch auf soziale Systeme wie die Familie, die Schule, das Unternehmen und das Heimatland ausgerichtet. Franz Ruppert unterscheidet zwischen vier Hauptbeziehungssystemen, die aus diesen Bindungen entstehen:
Das familiäre Beziehungssystem entspricht weitgehend der Herkunftsfamilie bei Bert Hellinger. Die MPT erkennt, im Gegensatz zu vielen »klassischen« psychologischen oder psychotherapeutischen Schulen, an, dass z. B. auch frühere Partner der Eltern, nicht lebend geborene oder abgetriebene Geschwister einen Einfluss auf die lebenden Kinder haben.
Das partnerschaftliche Beziehungssystem ist weitgehend deckungsgleich mit der Gegenwartsfamilie bei Bert Hellinger und basiert auf Sexualität.
Das freundschaftliche Beziehungssystem basiert auf Sympathie und gemeinsamem Interesse.
Das Arbeitsbeziehungssystem
Quellen: 59
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