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Gewissen

Aktualisiert: 11. Juli 2019



Gewissen in Familienaufstellungen nach Hellinger


Zugehörigkeit, Ordnung und Ausgleich von Geben und Nehmen sind das innere Regelwerk für das Zusammenleben von Menschen. Darin drückt sich das grundlegende menschliche Bedürfnis nach sinnvoll geregelten Beziehungen in sozialen Gruppen aus. Laut Bert Hellinger entstehen diese geregelten Beziehungen durch das Gewissen. Hellinger versteht unter Gewissen ein »inneres Organ für systemisches Verhalten«, einen »Sinn, durch den wir unmittelbar wahrnehmen, was notwendig ist, damit wir dazugehören«. Er veranschaulicht dies mit einem Bild des Gleichgewichtssinnes, der mit Schwindelgefühlen reagiert,

wenn das körperliche Gleichgewicht gefährdet ist, und der uns dazu bringt, »unsere Haltung sofort zu korrigieren, damit wir wieder ins Gleichgewicht kommen und standfest bleiben.«

Hellinger unterscheidet drei Arten von Gewissen, die systemisch eine wichtige Rolle spielen:

das persönliche Gewissen (bewusst), das kollektive Gewissen (meistens unbewusst) und das

geistige Gewissen.


Das persönliche Gewissen

Was wir als unser persönliches Gewissen erleben, hat eine dreifache Funktion. Unser Gewissen für …

  • Bindung und Zugehörigkeit dient der Bindung an die Familie und an die anderen für uns wichtigen Gruppen,

  • die Ausgewogenheit von Geben und Nehmen dient dem Ausgleich innerhalb des Familiensystems (oder der Organisation) und innerhalb unserer anderen wichtigen Beziehungen,

  • Ordnung wacht über die Einhaltung der Spielregeln und der Rechtsordnung zwischen den Systemmitgliedern.

Um diese Ziele zu erreichen, steuert uns dieses Gewissen mithilfe von Schuldgefühlen und Unschuldsempfinden. In jedem dieser drei genannten Bereiche fühlen sich Schuld und Unschuld anders an:

  • Bindung und Zugehörigkeit: Die Schuld im Dienst der Bindung wird als Angst vor dem Verlust der Zugehörigkeit erlebt und die Unschuld als Freude, dazugehören zu dürfen und sich dieser Zugehörigkeit sicher zu sein. Gut im Sinne des persönlichen Gewissens ist daher alles, was den Beziehungen dient, und schlecht ist alles, was diese Beziehungen gefährdet oder aufhebt.

  • Geben und Nehmen: Wenn wir von anderen etwas bekommen haben, ohne ihnen etwas Gleichwertiges zurückgegeben zu haben, wird Schuld als Verpflichtung zum Ausgleich gefühlt. Die Unschuld wird hier als Freiheit von einer Verpflichtung erlebt, wenn wir dem anderen Entsprechendes zurückgegeben haben und als Anspruch, wenn wir mehr gegeben als genommen haben. Dieses Bedürfnis nach Ausgleich wirkt nicht nur im Guten, sondern auch im Bösen. Wenn uns von jemandem etwas Böses angetan wurde, fühlen wir uns im Recht, demjenigen auch etwas Böses anzutun.

  • Ordnung: Zuletzt wacht das Gewissen mit einem wieder anderen Empfinden der Unschuld und Schuld über die Einhaltung der Spielregeln und der Rangordnung zwischen den Mitgliedern einer Gruppe. Unschuld wird hier als Gewissenhaftigkeit erlebt, Schuld als Furcht vor Strafe.

Doch das persönliche Gewissen dient den Beziehungen nur innerhalb einer begrenzten

Gruppe, vor allem den Beziehungen innerhalb der Familie. Um die Beziehungen innerhalb dieser Gruppe zu sichern, grenzt das Gewissen sie gegen andere Gruppen ab. Zwischen den Gruppen wirkt es trennend. Welche verheerenden Folgen es hat, wenn es über diesen engen Bereich hinaus als Richtschnur genommen wird, zeigen Kriege. Sie werden fast alle mit gutem Gewissen im Dienst der eigenen Gruppe geführt. Das persönliche Gewissen ist daher nicht nur gut, es ist auch böse, und wer ihm folgt, ist nicht immer nur gut, sondern oft auch böse. Aus Hellingers Sicht ist dieses Gewissen also nicht nur wissend, es ist auch blind.


Das kollektive Gewissen

Während wir beim persönlichen Gewissen bewusst mit anderen Personen in Verbindung

treten, steuert uns das kollektive Gewissen gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der

Gruppe auf eine Weise, in der wir nicht zwischen uns und ihnen unterscheiden können. Die

bewussten Unterschiede werden aufgehoben. Auch dieses Gewissen wacht über die Zugehörigkeit, den Ausgleich und die Ordnung – aber völlig anders als das persönliche Gewissen. Dabei handelt sich um Grunddynamiken, die den jeweiligen Gruppen selbst verborgen sind. Beim persönlichen Gewissen geht es um die Bedürfnisse des Einzelnen nach der eigenen Zugehörigkeit, dem persönlichen Ausgleich und der bewusst angestrebten Ordnung. Das kollektive Gewissen hat das Bedürfnis, die Zugehörigkeit all seiner Mitglieder zu sichern und für den Ausgleich und die Ordnung innerhalb des Systems zu sorgen. Dieses Gewissen ist nur dem Kollektiv gegenüber gerecht, den einzelnen Mitgliedern gegenüber aber oft ungerecht. Verglichen mit dem persönlichen Gewissen ist das kollektive Gewissen archaisch und daher auch von ungleich größerer Kraft und wirkt über mehrere Generationen hinweg.

  • Bindung und Zugehörigkeit: Das kollektive Gewissen hält das System zusammen und achtet z. B. darauf, dass kein Mitglied verloren geht (Gesetz der vollen Zahlen). Es behandelt dabei alle Mitglieder als gleichwertig. Im Gegensatz zum persönlichen Gewissen erlaubt es die Unterscheidung in Gut und Böse nicht. Alle, selbst Verbrecher, haben ein Recht auf Zugehörigkeit. Der Ausschluss eines Mitglieds ist eine kollektive Schuld, für die das System als System zur Rechenschaft gezogen wird, unabhängig von der persönlichen Schuld oder Unschuld seiner einzelnen Mitglieder. Das heißt, dass jeder Ausschluss eines Mitglieds dazu führt, dass dieses Gewissen innerhalb des Systems nach einem Ersatz für das ausgeschlossene Mitglied sucht, sodass ein Nachkomme das ausgeschlossene Mitglied vertreten muss, ohne dass ihm das bewusst ist. Die unbewusste Stellvertretung für ausgeschlossene Mitglieder führt dazu, dass diese Stellvertreter deren Schicksal wiederholen und dass sie versuchen, deren Ansprüche durchzusetzen (siehe dazu »Verstrickung«).

  • Ausgleich von Geben und Nehmen: Auch das Bedürfnis nach Ausgleich zeigt sich im kollektiven Gewissen anders. Ihm geht es nicht wie dem bewussten Gewissen um den Ausgleich zwischen Personen, sondern um den Ausgleich innerhalb des Systems. Das kollektive Gewissen duldet nicht, dass ein Systemmitglied einen Vorteil gegenüber anderen Mitgliedern hat. Es sorgt dafür, dass dass ein anderes dies später mit einem Verlust ausgleicht. Wenn ein Mitglied nicht selbst die Folgen seines Verhaltens trägt, übernimmt unter dem Druck des kollektiven Gewissens später ein anderes Mitglied diese Schuld und ihre Folgen, ohne sich dessen bewusst zu sein.

  • Ordnung: Die Mitglieder des Systems werden vom kollektiven Gewissen auch persönlich haftbar gemacht, wenn sie gegen die Ordnung verstoßen. Die Ordnung, die dieses Gewissen machtvoll durchsetzt, gibt den früheren Mitgliedern des Systems einen Vorrang vor denen, die später in dieses System eingetreten sind. Das heißt, dass die früheren Mitglieder den späteren gegenüber im Rang überlegen sind (siehe dazu »Rangordnung in der Familie «). Deswegen werden die späteren auch bedenkenlos für die früheren geopfert, z. B. wenn spätere die ausgeschlossenen früheren vertreten müssen, ohne Rücksicht auf ihr eigenes Wohlergehen oder ihre eigenen Wünsche und Ansprüche, oder wenn spätere für die Schuld der früheren Mitglieder büßen müssen, obwohl sie selbst unschuldig sind. Diese Ordnung des Vorrangs des Früheren gegenüber dem Späteren fordert zugleich, dass sich die späteren Mitglieder nicht in die Angelegenheiten der früheren einmischen. Das heißt vor allem, dass sie sich nicht verhalten, als seien sie größer oder tüchtiger oder wichtiger als die früheren, oder als müssten und dürften sie für die früheren etwas übernehmen, was in deren Verantwortung bleiben muss.

Weil es nicht bewusst ist, kommt das kollektive Gewissen eigentlich erst durch das Familienstellen ans Licht. Wenn die Bedürfnisse und Ordnungen dieses Gewissens verstanden sind, kann man die Bewegungen im System so lenken, dass die Bedürfnisse des kollektiven Gewissens erfüllt werden, ohne dass den Späteren ein Schaden zugefügt wird.


Das geistige Gewissen

Es existiert ein drittes Gewissen: das geistige Gewissen. Die verschiedenen Arten von Gewissen unterscheiden sich durch ihre Reichweite in der Liebe. Beim persönlichen Gewissen reicht die Liebe nur eine kleine Strecke weit. Es umfasst lediglich die Familie und auch hier nicht alle. Andere schließt es ganz aus. Das persönliche Gewissen opfert die »Abweichler« für die »Rechtgläubigen«. Das kollektive Gewissen umfasst alle, die zum Familiensystem gehören. Es opfert die Jüngeren für die Älteren, vor allem aber den Einzelnen für die Gruppe. Über diesen dreien gibt eine höhere Ebene, eine geistige Ebene – das geistige Gewissen. Das geistige Gewissen überwindet die Unterscheidung von Besser oder Schlechter und von Gut und Böse. Daher überwindet es auch die Grenzen des persönlichen und des kollektiven Gewissens. Es ist mit der Liebe des Geistes allen und allem gleichermaßen zugewandt. Es opfert niemanden, schließt keinen aus und klagt niemanden

an. Es hält niemanden für wichtiger, besser oder wertvoller als jemand anderes. Es

ist allerdings auch kein Schutzengel, der rettend eingreift. Es wacht über die Liebe und kommt ins Spiel, wenn wir von ihr abgewichen sind. Auch beim geistigen Gewissen gibt es die bereits erwähnten Gefühle von Unschuld und Schuld. Wenn jemand dem geistigen Gewissen folgt, fühlt er sich gut, ruhig und ohne Sorge. Er ist auch ohne Furcht. Er ist einfach da. Wenn er aber gegen dieses geistige Gewissen verstößt, z. B. wenn er innerlich jemandem böse wird oder ihn ablehnt, bekommt er ein schlechtes geistiges Gewissen, das sich in Unruhe und im Eifer zeigt.


Gewissen und Moral

Gewissen ist nicht gleichzusetzen mit Moral. Ein Systemmitglied fühlt sich z. B. schuldig, wenn es ihm gut geht, während ein anderes Familienmitglied leidet. Umgekehrt fühlt es sich nicht schuldig, wenn es ein Leid, das jemandem aus seiner Gruppe zugefügt wurde, vergilt, indem es den Tätern und dessen Gruppe Leid zufügt. Dies ist z. B. bei Selbstmordattentätern der Fall. Das persönliche und das kollektive Gewissen haben daher nichts mit irgendeiner Form von höherer Moral zu tun. Die Berufung auf höhere Werte dient lediglich dazu, die eigene Gruppe gegenüber anderen herauszustellen und somit ihr Überleben zu sichern.


Zusammenspiel zwischen persönlichem Gewissen und kollektivem Gewissen

Persönliches und kollektives Gewissen können gegensätzliche Ziele verfolgen, sodass ihr

Zusammenspiel gestört wird. Es ist vor allem deswegen gestört, weil wir nicht erkennen, was

das unbewusste kollektive Gewissen verlangt. So zwingt uns beispielsweise das persönliche

Gewissen dazu, dass wir für jemanden aus Liebe etwas übernehmen. So kann beispielsweise

ein Kind die Schuld seiner Eltern übernehmen. Dies widerspricht jedoch der ursprünglichen

Ordnung. In diesem Fall macht das Kind aus dem Antrieb des persönlichen Gewissens heraus etwas, was das kollektive unbewusste Gewissen für nicht richtig hält. Das verdeutlicht,

dass sich das kollektive Gewissen nicht an die Vorgaben des persönlichen Gewissens hält.

Dieser Widerspruch der Einstellung der beiden Gewissen führt dazu, dass jemand guten Gewissens etwas vollbringen kann, was ihm und seinen Nachkommen Unglück, Scheitern und Untergang bringen kann. Aus den gegensätzlichen Zielen der beiden Gewissen entsteht sehr viel Unglück wie z. B. Krankheiten, schwere Unfälle oder Selbstmord.


Kritische Stimmen

Das Konzept eines kollektiven oder sogar eines geistigen Gewissens das der Ratsuchende »in Dienst nimmt« wird von vielen Psychotherapeuten stark kritisiert, weil es die Autonomie des Ratsuchenden negiert und übernatürliche Kräfte voraussetzt. Nicht alle Aufstellungsmethoden setzen die Existenz eines kollektiven Gewissens voraus. Sie bieten andere Erklärungen für die Enstehung von Verstrickungen bzw. von Kontextüberlagerungen.

Der Psychiater und Aufsteller Ernst Robert Langlotz spricht z. B. von einer

»symbiotischer Anpassungsbereitschaft« (siehe dazu auch die »Mehrgenerationale Psychotraumatologie « von Franz Ruppert). Er meint, dass gerade das Einfügen des Anliegens in den Rahmen von Hellingers kollektivem Gewissen, die Ursache dafür ist, dass sich manche Ratsuchende von den schweren Schicksalen ihres Systems nicht lösen können. Ziel einer Aufstellung sollte seiner Meinung nach sein, dem Ratsuchenden zu helfen, sich aus seiner symbiotischen Bindung mit den Schicksalen seiner Familie zu lösen, also sich aus seiner »kollektiven Symbiose« zu befreien.

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